Nicht jeder kann vegan werden

Tierethik & Veganismus · May 19, 2021

Einleitung

Das zweite antivegane Argument, das ich mit euch durchgehen möchte, fasse ich mal so zusammen, dass es sich von selbst in drei Punkte zerlegen lässt: Es kann nicht jeder vegan (oder vegetarisch) leben, denn: Für manche Menschen bzw. in manchen Gebieten ist es nicht möglich, auf alle tierischen Lebensmittel zu verzichten. Dort würde ein Verzicht auch keine Ackerflächen für den Anbau von Gemüse und Co. freigeben.

Zerlegen wir diesen Einwand in die drei Teile:

  1. Für manche Menschen ist es nicht möglich, auf alle tierischen Lebensmittel zu verzichten.
  2. Die Einstellung der Tierhaltung gibt nicht automatisch Flächen für den Anbau von Pflanzen frei.
  3. Es kann nicht jeder vegan (oder vegetarisch) leben.

Die Gegenargumente

Der Verzicht

1.) Für manche Menschen ist es nicht möglich, auf alle tierischen Lebensmittel zu verzichten. Dieser Punkt des Einwandes kann schlicht zugestanden werden. Das ist faktisch so. Jeder von uns hat Regionen vor Augen, in denen das gegenwärtig schlicht nicht möglich ist. Es fehlt der Zugang zu den nötigen pflanzlichen Lebensmitteln, es fehlt der Zugang zu B12 usw. Es gibt also schlicht Regionen, in denen der Komplettverzicht nichts Anderes als ein langsamer Freitod wäre.

Nun sollte jedoch nicht der Fehler begangen werden, daraus zu schlussfolgern, dass deswegen einfach alles in Ordnung sei. Es kann nur dann ethisch richtig gehandelt werden, wenn alle Handlungsoptionen berücksichtigt und verglichen wurden. Es stellt sich also die Frage, ob das Geschehen-Lassen der Tiernutzung zu Ernährungszwecken alternativlos ist.

Kurzfristig wird man das bejahen müssen. Es gibt keine Lösung, die in den nächsten Jahren greifbar sein wird. Langfristig betrachtet ergeben sich zwei Handlungsoptionen: a) Die Menschheit müsste sich aus den Gebieten der Erde zurückziehen, in denen kein anderes Überleben möglich ist. Dies wird nur durch einen gemeinsamen Entschluss möglich sein, die Anzahl der Menschen durch freiwillige (!) Geburtenbeschränkungen wieder zu senken.

b) Andere Regionen sollten die Versorgung dieser Gebiete übernehmen. Diese Lösung hat einen entschiedenen Haken: Sie setzt ausreichende Ressourcen der produzierenden Gebiete voraus und würde massivste Lebensmitteltransporte voraussetzen. Erneuerbare Energien könnten den Transportaspekt entschärfen, aber die ständige Notwendigkeit, unfassbare Mengen an Lebensmitteln zu transportieren (und ggfs. zu kühlen) bliebe.

Beide Szenarien erscheinen gegenwärtig so derartig unrealistisch, dass es keinen Wert hat, sich weiter mit ihnen zu beschäftigen. Wichtiger ist es, darauf hinzuweisen, dass die Person, die euch gegenüber dieses Argument bringt, NICHT in dieser Situation ist. Sie kann sich als nicht-betroffene Person nicht hinter den Personen verstecken, die in dieser Situation sind.

Was hier stattfindet, ist eigentlich folgender Versuch: Indem darauf verweisen wird, dass der Veganismus gar nicht für alle eine Option sei, soll gezeigt werden, dass der Veganismus als Konzept falsch liegt. Warum das ein Fehlschluss ist, kann folgendes Beispiel offenbaren:

Unsere moderne Medizin hat es uns ermöglicht, bereits in der Schwangerschaft schwerwiegende Probleme zu erkennen, sodass im Notfall größeres Leid frühzeitig verhindert werden kann. Die Überzeugung, dass wir solche Frühuntersuchungen wahrnehmen sollten, ist bei uns fest verankert. Ist das Konzept der Frühkontrolle falsch, weil es nicht für jeden zur Verfügung steht? Natürlich nicht. Es ist ein seltendämlicher Fehlschluss.

Das ethisch Richtige bleibt ethisch richtig – egal, wie viele dazu in der Lage sind, es umzusetzen. Dieser Versuch sollte daher immer sofort unterbunden werden. Und natürlich sollte man immer gegenwärtig haben, dass es unzulässig ist, sich mit Situationen zu entschuldigen, in denen man gar nicht ist.

Die freien Flächen

2.) Die Einstellung der Tierhaltung gibt nicht automatisch Flächen für den Anbau von Pflanzen frei. Die vegane Szene sollte grundsätzlich der Versuchung widerstehen, dieses Argument irgendwie entkräften zu wollen. Es stimmt schlicht. Ende. Viel wichtiger ist folgende Frage: Müssen wir denn wirklich jede Fläche anders nutzen können? Muss es uns wirklich bekümmern, diesen Punkt zugestehen zu müssen?

Ich möchte mich an dieser Stelle nicht auf die Diskussion einlassen, wie viele der vermeintlich nicht geeigneten Flächen sich wirklich nicht für den Anbau eignen. Egal, was dabei herauskommt: Das grundsätzliche Argument, dass sich manche Flächen nur sinnvoll über die Haltung von Tieren nutzen lassen, bleibt davon völlig unberührt. Also zurück zu der wichtigeren Frage:

Wir verfüttern gegenwärtig durchschnittlich 3kg für uns essbare Nahrung für ein 1kg Fleisch (Quelle: Livestock: On our plates or eating at our table?). Bis zu 40% der Lebensmittel landen nicht in unseren Mägen, sondern im Müll. In allen Wohlstandsländern der Welt stehen mehr Kalorien zur Verfügung als tatsächlich gegessen werden (Quelle: Max Roser and Hannah Ritchie (2013) Food Supply, OurWorldinData); allein in Deutschland stehen über 80 Mio. Menschen weit über 1000kcal mehr zur Verfügung als sie benötigen.

Wir verschwenden viele brauchbare Flächen für vollkommen unnötigen Mist wie Schnittblumen oder nährstoffarme Getränke. Wir verfüttern Unmengen an unsere Haustiere. Usw usf. Was ich sagen möchte: Wenn wir wirklich wollen, bekommen wir diese Welt schon satt, selbst wenn manche Flächen der Natur zurückgegeben werden müssen. Und selbst wenn die aktuelle Bevölkerung so nicht zu ernähren wäre: Es wäre unsere Pflicht, unsere Anzahl dann durch freiwillige Geburtenkontrolle zu vermindern.

Welthungerhilfe - Ziegen gegen Hunger

Ich habe dieses Beispiel schon einmal genutzt, aber ich möchte es euch nochmal zeigen, weil es mir wichtig ist. Bitte versucht nicht, diesen Einwand grundsätzlich in Frage zu stellen. Da Tiere mit uns nicht automatisch in Nahrungskonkurrenz stehen, also Kalorien nutzbar machen können, die uns sonst nicht zur Verfügung stehen würden, ist es unmöglich, dass der Veganismus die beste Option für die Welternährung ist. Entscheidend ist einzig und allein, dass es reicht.

Bitte gehört nicht zu den Veganern, die durch Unwissenheit diese abstoßende Form der Arroganz an den Tag legen: Sind die Ärmsten der Armen wirklich nur zu blöd, zu verstehen, dass sie die Tiere einfach nur abschaffen müssten, um viel mehr Kalorien für sich zu haben? Die Menschen, die seit Jahrhunderten so überleben – sind die nur zu doof? Und die Veganer, die in der Regel keine Ahnung von den Gegebenheiten und von der Landwirtschaft haben, wissen es besser?

Warum gibt die Welthungerhilfe den Ärmsten der Armen Ziegen? Damit sie noch mehr hungern? Es ist himmelschreiende Arroganz!

Die Unmöglichkeit

3.) Es kann nicht jeder vegan (oder vegetarisch) leben. Um diesen letzten Punkt adressieren zu können, müssen wir uns die Definition der Vegan Society angucken:

„[Der Veganismus] ist eine Philosophie und eine Lebensweise, die danach strebt, alle Formen der Ausbeutung von und Grausamkeiten gegenüber Tieren – sei es für die Ernährung, für Kleidung oder für irgendeinen anderen Zweck – so weit wie möglich und praktisch durchführbar zu vermeiden. Darüber hinaus fördert er zum Vorteil von Mensch, Tier und Umwelt die Entwicklung und Nutzung tierfreier Alternativen. Auf die Ernährung bezogen bezeichnet er die Praxis, auf alle Produkte zu verzichten, die ganz oder teilweise von Tieren stammen.“

Ich möchte zwei Abschnitte herausheben, um euch auf etwas aufmerksam zu machen:

  • „[…] eine Lebensweise, die danach strebt […] so weit wie möglich und praktisch durchführbar zu vermeiden […]“
  • „Auf die Ernährung bezogen bezeichnet er die Praxis, auf alle Produkte zu verzichten, die ganz oder teilweise von Tieren stammen.“

Bevor ihr weiterlest: Bitte schaut, ob euch etwas auffällt.

Die beiden Aussagen sind nicht miteinander vereinbar. Als sich die Vegan Society auf diese Definition festgelegt hat, hatte sie anscheinend schlicht nicht auf dem Schirm, dass es für manche Menschen eben eine Sterbensweise und keine „Lebensweise“ wäre, auf alles Tierische zu verzichten. Der letzte Satz der Definition ist also aufgrund des Selbstwiderspruchs zu streichen. Es bleibt:

„[…] eine Lebensweise, die danach strebt […] so weit wie möglich und praktisch durchführbar zu vermeiden […]“

Es ist daher per Definition unmöglich, dass nicht alle Menschen vegan leben können. Da eine vegane Lebensweise nur so weit vermeidet, wie es eben mit dem Leben vereinbar ist, sind diejenigen, die wirklich nicht anders können, nur dazu verpflichtet, ihre Tiernutzung auf das absolute Minimum zu beschränken und sie so schonend wie nur irgendwie möglich zu gestalten.

Daraus folgt, dass die Nutzungen zu wählen sind, die mit den wenigsten und harmlosesten Interessenverletzungen einhergehen. Der Einwand, dass eine vegane Welt praktisch unmöglich ist, offenbart also ein Missverständnis dessen, was der Veganismus als ein Minimalrahmen für Gerechtigkeit gegenüber Tieren überhaupt fordert.

Was darüber hinaus tierethisch geboten wäre, ist eine Frage, die hier nicht diskutiert werden soll, da es nur um ein antiVEGANES Argument geht. Wir können also festhalten, dass sich dieses Argument gut adressieren lässt, wenn man es nur genau genug betrachtet. Ich hoffe zumindest, dass meine Erwiderung überzeugend ist.

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