In dem kürzlich auf dem zu dieser Plattform gehörenden Kanal veröffentlichten umfassenden Video zur Einführung in die philosophischen Grundlagen des Veganismus wurde auf prinzipieller Ebene erklärt, warum sich eine vegane Lebensweise weder gesundheitlich oder ökologisch noch über Welternährungsargumente begründen lässt. Mit anderen Worten: Es wurde dort erklärt, warum man eine vegane Lebensweise nicht über diese Blickwinkel begründen kann. Bewusst ausgespart wurde hingegen, warum man diese Argumente fernab der sachlichen Falschheit auch aus ethischen Gründen vielleicht besser nicht nutzen sollte.
Die folgenden Ausführungen sind daher als Ergänzung zum Grundlagenvideo zu verstehen, blieben jedoch auch dann relevant, wenn sich der Veganismus über Gesundheits- oder Klimaargumente usw. begründen ließe. Die ethischen Einwände gegen derartige Überzeugungsversuche zerfallen dabei in zwei Kategorien: in tierethische und humanethische Gründe. Danach folgen noch einige abschließende Gedanken.
Der tierethische Einwand gegen außer-tierethische Argumente
Um zu verdeutlichen, warum die üblichen Argumente fernab der Tierethik ein ethisches Problem darstellen, ist es hilfreich, sich dieses Problem einfach an einem konkreten Beispiel vor Augen zu führen, bevor noch ergänzende Überlegungen nachgetragen werden.
Wenn Veganer für ihr Anliegen auf das Gesundheitsargument zurückgreifen, sind zum Beispiel Äußerungen zu vernehmen, die in etwa so lauten:
Wenn Menschen auf den Konsum tierischer Lebensmittel verzichten, senken sie ihr allgemeines Risiko, an Krebs zu erkranken und zu sterben.
Erfahrungsgemäß fällt einer überwältigenden Mehrheit innerhalb der veganen Szene bei dieser Aussage nichts Problematisches auf – und wenn doch, dann ist am ehesten noch Kritik an der Belastbarkeit der ernährungswissenschaftlichen Daten zu vernehmen, auf die sich eine solche Aussage stützt.
Formulieren wir die Aussage leicht um, ohne die Kernaussage dabei zu verändern:
Wenn Menschen damit aufhören, Lebensmittel zu konsumieren, für deren Gewinnung Tiere ausgebeutet und geschlachtet werden müssen, senken sie ihr allgemeines Risiko, an Krebs zu erkranken und zu sterben.
Der gemachte Punkt ist noch immer derselbe, aber er hat spürbar an Reiz verloren. Irgendetwas klingt nun spontan falsch – und der Grund dafür ist die Sichtbarmachung der Opfer, nachdem sie in der ersten Aussage nicht einmal mehr wirklich präsent waren.
Auch wenn nun schon greifbar wird, was das Problem des Gesundheitsarguments ist, erscheint es sinnvoll, noch eine weitere Verdeutlichung vorzunehmen und die Aussage noch einmal in eine allgemeinere Form zu bringen:
Wenn Menschen auf die verwerfliche Handlung X verzichten, ergibt sich der positive Nebeneffekt Y.
Was Veganer hier treiben, würden wir in anderen, sogar in wesentlich harmloseren Kontexten als unangemessen empfinden. Man stelle sich vor, jemand würde sich dagegen aussprechen, Politiker mit Eiern oder Torten zu bewerfen, weil man sich dabei eine Zerrung zuziehen könnte.
Gerade drastische Beispiele aus dem Humankontext können sehr schnell aufzeigen, dass bei diesem Argumentationsmuster etwas Bedenkliches passiert ist:
Wenn Eltern aufhören, ihre Kleinkinder unbeaufsichtigt am offenen Fenster spielen zu lassen, senken sie ihr Risiko, traumatisiert zu werden.
Wenn Menschen aufhören, andere Menschen zu vergewaltigen, senken sie ihr Risiko, sich mit einer Geschlechtskrankheit zu infizieren.
Es stelle sich jeder die Frage: Was wäre wohl los, wenn ein solches Plakat in den Städten angebracht wäre?
Es ginge ein Aufschrei durchs Land, wenn irgendein Verein ernsthaft versuchen würde, gegen Vergewaltigungen zu kämpfen, indem er auf die Gesundheitsrisiken für Vergewaltiger verweist. Viele würden es viel eher für eine gerechte Strafe halten, wenn sich ein Vergewaltiger infiziert.
Das Problem ist offensichtlich und wird so ziemlich von jedem sofort bemerkt: Diese und vergleichbare Argumente nehmen ausgerechnet die Täter als Leidtragende in den Fokus. Es geht plötzlich nicht mehr um die eigentlichen Opfer, sondern um die selbstverschuldeten Konsequenzen für die Täter. Wenn es jedoch um milliardenfache Ausbeutung, Quälerei und Schlachtung von Tieren geht, scheint quasi niemandem die Unangemessenheit solcher Überzeugungsversuche aufzufallen.
Was solche Argumente machen, ist nichts Anderes als das Hauptproblem zu marginalisieren, indem sie suggerieren, dass überhaupt noch ergänzende Aspekte notwendig seien. Als wäre das eigentliche Problem, als wäre das Elend der Opfer nicht Grund genug. Wenn eine Handlung jedoch an sich verwerflich ist, dann sollte man diese Handlung unterlassen, weil sie verwerflich ist – und nicht erst, weil irgendein zusätzlicher positiver Nebeneffekt lockt.
Man vergewaltigt niemanden, weil einem das Opfer leid täte, nicht weil man sein Risiko minimieren will, sich mit einer Geschlechtskrankheit zu infizieren. Das zentrale Problem wäre das vom Täter verursachte Leid des Opfers, nicht das Infektionsrisiko des Täters.
Man lässt seine Kleinkinder nicht unbeaufsichtigt an einem offenen Fenster spielen, weil man nicht will, dass ihnen etwas passiert, nicht, weil man sein Trauma-Risiko senken will. Es geht primär um das aufgrund der Unachtsamkeit verletzte oder verstorbene Kind, nicht um die Befindlichkeiten der unachtsamen Hinterbliebenen.
Nochmal: Wenn eine Handlung an sich verwerflich ist, dann sollte sie unterlassen werden, weil sie verwerflich ist – unabhängig davon, ob sich zusätzlich angenehme Nebeneffekte ergeben.
Wenn der Veganismus als ethisches Anliegen ernst genommen werden will, dann muss er sich auch an die ‚Spielregeln‘ der Ethik halten. Das heißt: Er muss unter anderem auch danach streben, eine konsistente Position zu vertreten.
Veganer, die auf Gesundheitsargumente setzen wollen, haben also nicht nur das Problem, dass sie auf eine sachlich unstatthafte Strategie zurückgreifen, sondern sie müssten auch erklären können, warum sie im tierethischen Kontext auf ein Argumentationsmuster zurückgreifen, das wir im Humanbereich vollkommen zu Recht für verwerflich, wenn nicht sogar für abstoßend halten.
Selbst wenn es keinen Anlass gibt, Mensch und Tier pauschal gleichzustellen, ist hier zu fragen, was der ethisch ausreichend relevante Unterschied ist, der diesen Doppelstandard rechtfertigen könnte. Die üblicherweise angeführten Argumente scheitern am sogenannten Argument der menschlichen Grenzfälle, an isolierten Menschen und aus weiteren Gründen. (Mehr Hintergründe hierzu sind in dem Grundlagen-Video zu finden.)
Wer dem bisherigen Gedankengang folgen konnte, wird nun auch verstehen, warum eine separate Behandlung des Umweltarguments oder des Aspekts Welternährung nicht nötig ist. Es besteht dasselbe Problem: Wir halten es nicht für akzeptabel, Menschen aus Umweltschutzgründen auszubeuten und zu töten. Warum sollte es dann bei Tieren in Ordnung sein?
Veganer, die nun den Einwand erheben wollen, dass es doch strategisch wichtig sei, auch Menschen zu erreichen, die Tieren gegenüber viel zu gleichgültig sind, sei folgendes erwidert:
- Die Argumente fernab der Ethik sind sachlich nicht haltbar. Es muss also bewusst darauf gesetzt werden, Menschen zu belügen. Wer nicht selbst von anderen veralbert werden will, sollte auch andere nicht veralbern.
- Diese Argumente machen Tiere aus dem geschilderten Grund zu Opfern zweiter Klasse. Sie erscheinen als so unwichtig, dass bei ihnen Argumentationsmuster statthaft sind, die wir bei Menschen für verwerflich halten. Veganer, die auf diese Argumente setzen, werten Tiere folglich unbemerkt auf eine derartig gravierende Weise ab, dass sich die Frage stellt, welche nicht direkt messbaren und noch völlig unbeforschten Schäden diese Kommunikation anrichtet. Welchen Preis hat es, dass die vegane Szene derartig ethischen Ernst vermissen lässt, indem sie Tiere unbemerkt zu Opfern zweiter Klasse degradiert? In welchem Umfang nehmen die Menschen, die wir erreichen wollen, es wahr, dass nicht einmal die vegane Szene Tiere wirklich ernst nimmt? Und es sei noch eine bittere Frage gestattet: Was verrät es über Veganer, dass sie diesen Doppelstandard quasi nie bemerken?
Der humanethische Einwand gegen außer-tierethische Argumente
Wenn Veganer auf das Gesundheitsargument oder auf das Umweltargument setzen, ist regelmäßig zu beobachten, dass sie sofort auf die ethische Ebene wechseln, sobald das Gegenüber gesundheitliche oder ökologische Schlupflöcher gefunden hat. Wenn für diese Veganer das Gesundheits- oder Umweltargument zentral wäre, dann würden sie die gefundenen Ausnahmen akzeptieren, denn sie wären ja dann gesünder oder ökologischer. Da dies jedoch nicht geschieht, wird deutlich, dass für sie das ethische Argument die größte Bedeutung hat. Sie akzeptieren die Ausbeutung von Tieren auch dann nicht, wenn sie weder gesundheitlich noch ökologisch zu kritisieren ist.
Das Gegenüber fühlt sich nun nach einem solchen Gesprächsverlauf vollkommen zu Recht veralbert, weil etwas diskutiert wurde, das am Ende ohnehin nicht zählt. Es nimmt den jeweiligen Veganer dann völlig zu Recht als unehrlich, vielleicht sogar als Lügner wahr. Wer mit diesen Argumenten auftritt und sich dann auf die Ethik beruft, sobald die Argumente nicht verfangen haben, muss sich dementsprechend den Vorwurf gefallen lassen, dass sie oder er das Gegenüber unredlich behandelt hat. Es ist zwischenmenschlich schäbig, weswegen noch einmal daran erinnert sei: Wer selbst nicht von anderen unredlich behandelt werden möchte, der sollte auch selbst andere redlich behandeln.
Abschließende Gedanken
1.) Die Argumente der bisherigen Betrachtung sollten nicht dahingehend missverstanden werden, dass Veganer gar nicht über die Themen Gesundheit, Ökologie usw. sprechen sollten. Es geht lediglich um den Modus, um das Wie.
Kritisiert wurde der Versuch, Menschen über diese Argumente für den Veganismus zu gewinnen; kritisiert wurden also Argumente mit verlockendem Charakter. Es spricht hingegen nichts dagegen, in einem Modus über diese Themen zu reden, der Sorgen nimmt, der über Lösungen spricht oder der Hilfe anbietet. In dieser Hinsicht sollte jeder Veganer die Grundlagen beherrschen, um auskunftsfähig zu sein. Wir brauchen Gesundheitsinformationen, wir brauchen Antworten auf ökologische Rückfragen usw. usf.
Darüber hinaus ist es auch völlig legitim, den Status quo deutlich zu kritisieren. Wir benötigen vor allem ökologisch dringend eine drastische Reduktion der Tierausbeutung, aber da sich der Veganismus so nun einmal nicht begründen lässt, sollte hier nichts kommuniziert werden, was über diesen Reduktionsbedarf hinausgeht. Der Veganismus kann nur ethisch begründet werden.
2.) Das Problem, dass die vegane Szene Tiere zu Opfern zweiter Klasse macht, ist keineswegs auf die hier angesprochenen Punkte beschränkt. Es findet regelmäßig statt, wenn unreflektiert „Baby-Steps“ empfohlen werden, wenn mehr oder weniger direkt gesagt wird, dass niemand vegan leben müsse oder wenn der Veganismus an Tierliebe gebunden wird. Wer Tiere liebe, beute sie nicht aus.
Zur Erklärung: Man muss auch seinen Nachbarn nicht lieben, um ihn anständig zu behandeln. Und wenn mir mein Nachbar egal ist, folgt daraus kein Freibrief, ihn scheußlich zu behandeln. Warum sollte es bei Tieren grundsätzlich anders sein? Es geht schlicht um Gerechtigkeit, nicht um Sympathie oder Liebe.
Wer das in der veganen Szene flächendeckend zu beobachtende Problem vermeiden will, sollte sich daher stets fragen: Was denke ich über mein Argument, wenn ich es auf den Humankontext übertrage? Wenn sich hierbei Unbehagen einstellt, liegt ein Problem vor, das Beachtung verdient.
Daraus folgt noch nicht, dass sich jeder Doppelstandard verbietet, aber er muss dann eben sorgfältig begründet werden.
3.) Und was ist nun mit den Menschen, die sich für das Schicksal der Tiere nicht interessieren? Müssen wir die nicht anders erreichen?
Eine Gegenfrage: Sollen wir dafür lügen? Denn das ist die notwendige Grundlage dieser Rückfragen.
Nein, wir sollten den Punkt dafür machen, warum einem Tiere nicht egal sein sollten, warum es unerheblich ist, ob man sich persönlich für ihr Schicksal interessiert. Gleichgültigkeit ist auch im Humanbereich kein Freibrief.