Der Mensch ist (k)ein Fleischesser

Tierethik & Veganismus · May 16, 2021

Einleitung

Das Argument, um das es heute gehen soll, ist ein wahrer Klassiker der veganen Szene: Wenn du doch ein echter Fleischesser bist, versuche doch mal, ohne Hilfsmittel nur mit deinen tollen Krallen ein Reh zu erlegen. Und wenn du das geschafft hast, dann versuche mal, mit deinen gewaltigen Zähnen das Fell zu durchbeißen und das Tier roh zu essen. So in etwa hört man das sachlich regelmäßig.

Auf den ersten Blick scheint das eine plausible Kritik zu sein. Wir können das schließlich wirklich nicht. Aber diese Erwiderung bzw. dieses Argument offenbart drei ganz grundsätzliche Denkfehler.

  1. Es ist ein Doppelstandard.
  2. Es ist logisch wertlos.
  3. Es ist biologisch albern. Wir gehen diese drei Punkte jetzt mal Schritt für Schritt durch.

1.) Es ist ein Doppelstandard.

Wir kennen es alle: Wenn einfältige Antiveganer oder schlicht veränderungsunwillige Mischköstler versuchen, die vegane Position abzuschmettern, hört man immer und immer wieder Verweise auf Raubtiere. „Aber Löwen töten doch auch Tiere. Warum sollte ich das nicht auch dürfen?“ und vergleichbar ärmliche Argumentationsversuche kennen wir alle. Veganer reagieren darauf in der Regel vollkommen korrekt:

„Das kann doch nicht der Maßstab sein! Löwen töten auch fremde Jungtiere. Ist das jetzt auch in Ordnung? Darf ein Mann das fremde Baby seiner neuen Partnerin töten, weil Löwen das auch tun? Du kannst dir nicht willkürlich eine Sache heraussuchen, die Löwen machen, das als Rechtfertigung nutzen, aber dann anderes willkürlich verwerfen. Entweder sind Löwen der ethische Maßstab oder nicht. Und übrigens: Raubtiere lecken sich auch ihren Arsch! Viel Spaß.“

Worauf solche und vergleichbare Erwiderungen berechtigterweise abzielen, ist die Tatsache, dass wir sonst keineswegs das, was in ‚der‘ Natur so passiert, zum Maßstab für unsere Moral oder Ethik machen. Wir versuchen gerade viel eher, die Rücksichtslosigkeit und Härte der Natur hinter uns zu lassen. Wir haben also durchaus erkannt, daß ‚die Natur‘ nicht der alleinige Maßstab für uns ist. Wir sind nun einmal nicht nur NATURwesen, sondern auch KULTURwesen. Und nun zum Problem: Wenn wir doch nun erkannt haben, dass diese Vergleiche mit Tieren, mit den Abläufen in der Natur untauglich sind: Wie kann es parallel sein, dass wir dann wieder in diese Muster zurückfallen – und solche Argumente dann selbst wieder nutzen, wenn es UNS in den Kram passt?

Wir können doch nicht sagen, dass Tiere nicht der Maßstab sind, weil wir auch Kulturwesen sind, um dann im nächsten Moment die Tiere doch wieder zum Maßstab zu erheben! „Wir können nicht wie ein Wolf Beute reißen? Okay, dann sind wir auch keine Fleischfresser!“ – Das ist dieselbe falsche Logik unter umgekehrten Vorzeichen! Wir kehren zu diesen Überlegungen bei 3.) zurück.

2.) Es ist logisch wertlos.

Das ‚Argument‘, um das es hier geht, versucht letztlich diesen Punkt zu machen:
Wir haben natürlicherweise Fleisch gegessen, also ist es auch richtig, es zu tun.

Die beschriebene vegane Erwiderung versucht, diesen Punkt zu machen:
Wir haben natürlicherweise kein Fleisch gegessen, also ist es auch falsch, es zu tun. Beide Denkweisen teilen sich dieselben Fehler:

a) Der Sein-Sollen-Fehlschluss.

Beide ‚Argumente‘ begehen auf identische Weise den Fehler, gegen „Humes Gesetz“ zu verstoßen. Der Philosoph David Hume (1711–1776) hatte zu Recht darauf hingewiesen, dass logisch nicht vom „Sein“ aufs „Sollen“ geschlossen werden kann. Nur weil etwas der Fall IST, folgt daraus NICHT, dass es auch der Fall sein SOLLTE. Um das etwas anschaulicher zu machen:

Nehmen wir diese Aussage:
Wir haben schon immer Fleisch gegessen, daher sollten wir auch weiterhin Fleisch essen.
Geben wir dem Ganzen mal Buchstaben, um es zu verkürzen.
Wir haben: A
Fleisch essen/gegessen: B
Sollten wir: C
A und B, daher C und B.

Guck Euch das genau an. Das “C” kommt aus dem Nichts. Ich kann weder aus dem “A” ein “C” gewinnen noch aus dem “B”. Um diesen Schluss gültig zu machen, benötige ich also irgendeine Brücke, die zu C führt. Diese fehlt hier. WENN das, was der Fall IST, auch der Fall bleiben SOLLTE, dann ist der Schluss korrekt. Erst dieses “Wenn” stopft das Loch. Dass dieses „Wenn“ falsch ist, ist jedoch offenkundig. Wir HABEN immer gemordet, immer Kriege geführt, immer vergewaltigt. SOLLTE daraus folgen, dass wir es auch immer so machen sollten? Natürlich nicht. Und damit sind wir bei:

b) Der Appeal-to-nature-Fehlschluss.

Diesen Fehlschluss begeht, wer aus der Natürlichkeit einer Sache auf die Richtigkeit oder auf das Gut-Sein schließt. Und diesen Fehlschluss begeht genauso, wer aus der Unnatürlichkeit einer Sache auf die Falschheit oder auf das Schlecht-Sein schließt. Es ist so offenkundig, warum diese Schlussfolgerungen beide falsch sind, dass ich darauf verzichten kann, Beispiele zu geben. Wir nennen so etwas „non sequitur“ – „es folgt nicht“.

Wir haben also bisher festgehalten, dass die vegane Szene, wenn sie so argumentiert, gleich 2 Fehler begeht: Sie pflegt einen Doppelstandard. Und sie stützt sich unbemerkt auf einen logischen Fehlschluss. Letzteres ist ein Problem, dass sich durch die ganze Gesellschaft zieht. Aus irgendeinem Grund verbinden wir „Natürlichkeit“ ständig damit, dass etwas gut oder richtig ist. Die Werbebranche spielt diese Karte daher besonders gerne.

3.) Es ist biologisch albern.

Wenn Veganer solche Argumente bzw. Erwiderungen formulieren, wollen sie darauf hinweisen, dass uns die Anpassungen fehlen, die nötig wären, um uns zu einem „Fleischesser“ oder meinetwegen „Raubtier“ zu machen. Was ist biologisch betrachtet eine Anpassung? Eine durch Varianten und Auslese erzeugte Veränderung eines Lebewesens. Sie kann das bloße Verhalten oder aber körperliche Eigenschaften betreffen.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet Veganer, die doch immer betonen, dass wir uns durch unsere größere Vernunftfähigkeit von anderen Tieren unterscheiden und uns daher nicht wie Tiere benehmen sollten, ganz plötzlich vergessen, unser Gehirn als evolutionäre ANPASSUNG zu begreifen.

Unser Gehirn ersetzt die Krallen! Unser Gehirn ersetzt die gewaltigen Zähne! Unser Gehirn erübrigt es uns, die körperlichen Leistungen anderer Tiere zu erbringen. Wir sind relativ langsam. Wir sind schlechte Schwimmer. Wir sind schlechte Kletterer. Warum? Weil wir es uns leisten konnten, so zu sein. Unser Gehirn ist unsere körperliche Anpassung, mit der wir all das ausgleichen konnten! Wir müssen kein Fell und keine feste Haut durchbeißen können. Wir müssen kein rohes Fleisch essen, weil wir seit Ewigkeiten das Feuer beherrschen. Wir müssen nicht wie ein Wolf Rehe reißen, weil wir Waffen und Fallen produzieren können! Es gibt keinen Grund, davon auszugehen, dass unsere Evolution fleischlos erfolgt ist. Es gibt viel eher solide Gründe dafür, davon auszugehen, dass Tierisches in einem schwankenden Umfang (je nach Region und Zeit) ganz allgemein eine wichtige Rolle gespielt hat. Natürlich auch Pflanzen (insbesondere wohl Stärkehaltiges). Und wisst ihr was? Es ist scheißegal. Es ist vollkommen egal. Diese Denke (das antivegane Argument, das daraus folgen soll) ist ebenfalls ein Doppelstandard, ebenfalls logisch nicht haltbar und ebenfalls biologisch albern.

Warum begeben wir uns also ständig selbst auf dieses Niveau? Sollten wir wirklich glauben, dass alle außer uns zu doof sind, solche grundsätzlichen Überlegungen zu verstehen, sodass wir ihnen auf dieser Ebene begegnen müssen? Müssen wir uns so die Blöße geben, obwohl das Internet bereits voll mit Spott darüber ist, dass wir so bescheuert argumentieren? Eine angemessene Reaktion auf so ein ‚Argument‘ wäre viel eher:

Wir haben schon immer Fleisch gegessen? Wir sind evolutionär betrachtet omnivore Tiere, also auch Fleischesser? Das mag sein. Aber was soll daraus folgen? Es spielt keine Rolle, weil … (Siehe die vorherigen Ausführungen). Unser Körper braucht kein Fleisch, keine Eier, keine Milch – er braucht Nährstoffe. Wenn wir diese bekommen können, ohne dafür Tiere auszubeuten: Warum sollten wir es dann tun?

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