Einleitung
Dieses Bild und vergleichbare Bilder werden viele kennen, die sich privat oder in der Ausbildung damit beschäftigt haben, wie man ‚anständig‘ argumentiert und allgemeiner: denkt. Die Pointe dieses Bildes hier ist, dass nur ein Scheindissens vorliegt, da schlicht ein Bezugspunkt unberücksichtigt ist: der Blickwinkel.
Nun lassen sich freilich nicht alle Hürden, die uns bei der Erfassung von Sachverhalten im Wege stehen, so einfach beseitigen wie in diesem Fall. Ein Begriff, der eng mit diesen Hürden verbunden ist, ist der „Bias“ oder die „kognitive Verzerrung“. Insbesondere der „confirmation bias“, also unserer Neigung, Informationen so zu deuten oder so auszuwählen, dass unsere (Erwartungs-)Haltung bestätigt wird, dürfte fast jedem bekannt sein.
Um unserer Anfälligkeit für Verzerrungen zu entgehen und Fehler bei der Datengewinnung zu vermeiden, hat die medizinische Forschung zahlreiche Methoden entwickelt, die sicherstellen sollen, dass wir uns nicht fehlleiten. Die randomisierte kontrollierte Studie (randomized controlled trial, RCT) gilt aus diesem Grund als der Studiendesign-Goldstandard, weil sie sowohl unsere menschliche Schwäche als auch Verzerrungsquellen im Allgemeinen – so gut es eben geht – berücksichtigt.
Das Ziel dieses Beitrags ist es jedoch nicht, die hundertste Zusammenfassung zu diesem Thema zu liefern. Die bisherigen Ausführungen sollen nur auf einen Punkt aufmerksam machen: Wir betrachten Biases als etwas Negatives, als etwas, was es unbedingt zu vermeiden gilt. Und ja: Wir haben diese Haltung aus guten Gründen. Sie sind eine ständige Gefahrenquelle, führen zu Ungerechtigkeiten, stehen Lösungen im Weg usw. usf.
Diese berechtigte Wahrnehmung hat uns allerdings flächendeckend den Blick dafür versperrt, dass Biases auch etwas Kostbares sind, sobald wir nicht nur verstehen, wie wir sie vermeiden, sondern wie wir sie klug nutzen können. Die folgenden Gedanken sollen diese Aussage begründen und werden gleichzeitig zu einer scharfen Kritik an der aktuell grassierenden Zensur-, Ausblende- und Missachtungskultur führen.
Der Intellekt als „Diener“ des Willens
Als Ausgangspunkt für die Betrachtung können die nachstehenden Worte des besonders als Nietzsche-Forscher bekannten Philosophen Werner Stegmaier dienen. Er schrieb über Arthur Schopenhauers Rolle in der Geschichte der Philosophie: Die „Schwäche [unserer Vernunft] gegenüber allen Arten von Leidenschaften, Zwängen und Interessen konnte zu keiner Zeit verborgen bleiben“, aber „erst Schopenhauer [hat] die Bedingtheit der Vernunft so massiv herausgestellt, daß ihr Ansehen sich davon nicht mehr erholt hat.“ (Interpretationen. Hauptwerke der Philosophie von Kant bis Nietzsche, Stuttgart 1997, S. 274.)
Schopenhauer betrachtete den Intellekt als den „Diener“ des Willens, „da jener in letzter Instanz stets das Regiment behält, mithin den eigentlichen Kern, das Wesen an sich des Menschen ausmacht.“ „Was dem Herzen widerstrebt, läßt der Kopf nicht ein. Manche Irrthümer halten wir unser Leben hindurch fest, und hüten uns, jemals ihren Grund zu prüfen, bloß aus einer uns selber unbewußten Furcht, die Entdeckung machen zu können, daß wir so lange und so oft das Falsche geglaubt und behauptet haben. – So wird denn täglich unser Intellekt durch die Gaukeleien der Neigung bethört und bestochen.“ (Die Welt als Wille und Vorstellung II, § 19.)
Die von Schopenhauer zur Verteidigung der Vernunft an anderer Stelle offengelassenen Fluchtwege wurden nur wenige Jahre später von Nietzsche argumentativ verbarrikadiert. Unser Intellekt wurde zu einem bloßen Werkzeug unserer Begehren und Bedürfnisse (NF 1885 40[61], KSA XI.661). „[…] ein Glaubenssatz könnte [dem Menschen] tausendfach widerlegt sein, — gesetzt, er hätte ihn nöthig, so würde er ihn auch immer wieder für ‚wahr‘ halten […]“ – selbst die Werke der größten Denker der Geschichte werden nun auf die psychologischen Bedingtheiten ihrer Gedanken abgeklopft (FW 347, KSA III.581, JGB 187, KSA V.107).
‚Die‘ moderne Wissenschaft hat der radikalen Vernunftkritik des 19. Jahrhunderts neue Plausibilität gegeben und ihre Methoden zunehmend auf diesen Sachverhalt eingestellt, aber die besonders bei Nietzsche auffindbaren ‚Loblieder‘ auf die Schwäche unserer Vernunft haben keinen breiteren Eingang in unsere Gesellschaft gefunden. Die Frage lautet also: Inwiefern profitieren wir vom Werkzeugcharakter unserer Vernunft und welcher potenzielle Nutzen wird noch nicht ausreichend systematisch ausgeschöpft?
Motivated reasoning
Wenn wir unsere Vernunft als Werkzeug betrachten, das nur im Dienste unseres Wollens tätig ist, wird offensichtlich, dass es erst einmal nichts Schlechtes ist, nicht im Sinne des wissenschaftlichen Ideals ‚neutral‘ zu sein. Erst der Wunsch, erst das Anstreben eines Zieles führt dazu, dass unser Denken die Aufgabe übernimmt, nach Argumenten und Lösungen zu suchen. Es ließe sich provokant die Behauptung aufstellen, dass die Gedankentiefe mit der Intensität des Wollens zusammenhängt, auch wenn dadurch natürlich keineswegs automatisch Defizite in puncto Intelligenz und Bildung ausgeglichen werden.
Diese Überlegung wird plausibel, wenn man Diskussionen zwischen Veganern und dem 0815-Normalbürger betrachtet. Das Niveau der Einwände gegen den Veganismus ist im Normalfall nicht deswegen so erschütternd niedrig, weil die Menschen dümmer als Veganer sind, sondern weil sie nie oder beinahe nie die Notwendigkeit verspürt haben, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Solange ihr Lebensstil noch nicht ernsthaft von der veganen Bewegung bedroht ist, haben sie keinen Grund dafür, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen, während sich der Veganer üblicherweise seit Monaten oder Jahren damit beschäftigt, da er eben etwas will, weil er Veränderung wünscht.
Obwohl nicht vergessen werden sollte, dass dieses zielgeleitete, wollende Denken sichtlich zur voreiligen Akzeptanz von (oft lausigen) Argumenten und zu verfrühten Denkabbrüchen führt, lässt sich insofern festhalten, dass sich so nicht nur überhaupt erst Positionen herauskristallisieren, sondern dass diese auch noch zusätzlich durch die Auseinandersetzung mit Einwänden ständig weiterentwickelt, verfeinert und neu abgesichert werden. Das, was wir allgemein abschätzig als „motivated reasoning“ bezeichnen, führt also nicht nur zu unredlichen Pseudoargumenten – man wird auch betonen müssen, dass die berechtigten Argumente keinen anderen Ursprung haben.
Folgt man dieser Logik weiter, beantwortet sich die Frage von selbst, warum die vegane Szene gegenwärtig noch nicht flächendeckend für ihre zahlreichen Un- und Halbwahrheiten geteert und gefedert wird. Sobald der gesellschaftliche Status quo stärker zu bröckeln beginnt, wird auch die Motivation entstehen, die veganen Argumente genauer unter die Lupe zu nehmen. Die besonders dusseligen Argumente (Löwen fressen doch auch Fleisch!) werden uns dann immer weniger begegnen, da dann die Beschäftigungstiefe zunehmen wird.
Die vegane Szene verdankt ihrem Wollen ihre guten und ihre dummen Argumente, und jeder kann für sich alleine spüren, wie schwer es fällt, selbst auf Einwände zu kommen, weil unser Streben unser Denken in eine völlig andere Richtung treibt. Wir haben unweigerlich die Tendenz, unseren übernommenen oder herausgearbeiteten Gründen eine befriedigende Plausibilität zuzusprechen. Und das gilt natürlich für alle Bereiche. Darum sind Linke so schlecht darin, legitime Einwände von Rechten vorwegzunehmen; darum kommen Rechte kaum von alleine auf völlig berechtigte Einwände von Linken. Darum sind religiöse Argumente gegen atheistische Kritik oft so lächerlich, darum sind die Gegner der Corona-Maßnahmen so gut darin, die Widersprüche und falschen Versprechungen der Politik herauszuarbeiten usw. usf. Wer für etwas ist, wird sich in die Argumente vertiefen, die dafür sprechen, wer gegen etwas ist, wird dasselbe bei den Gegenargumenten tun. Was folgt also? Wir müssen damit aufhören, Biases undifferenziert negativ mit Denkproblemen zu assoziieren. Wir müssen begreifen, dass „motivated reasoning“ nicht nur faule, sondern auch gute Argumente produziert, dass es nicht nur zu verfrühten Denkabbrüchen führt, sondern auch Vertiefung fördert. Wir müssen uns darauf einstellen, dass unsere Positionen solange aufgrund des Werkzeugcharakters unserer Vernunft massiv defizitär sind, solange wir uns nicht systematisch den Einwänden unserer klügsten Gegner stellen.
Fazit
Das heißt: Ja, Biases sind letztlich ein Problem, aber sie stellen uns auch das Material zur Verfügung, mit dem wir zu anständigen Positionen kommen können. Die Voraussetzung dafür ist jedoch, dass wir uns der Schwäche unserer Vernunft bewusst werden und einsehen, dass ebendiese dazu führt, dass selbst unsere größten ‚Feinde‘ wahrscheinlich aufgrund ihres Wollens Punkte machen werden, von denen wir profitieren können.
Du bist ein Vertreter der aktuellen ‚Gendertheorie‘? Fein. Lies TERFs, lies Konservative! Du bist Veganer? Wunderbar. Lies Antiveganer, philosophische Gegner von Tierrechten, informiere Dich bei Tierausbeutern! Du bist links? Lies Rechte! Du bist rechts? Lies Linke! …
Und damit sollte nun auch klar sein, warum ich den aktuellen Trend, alles „terfige“ oder nicht stramm-linke mit Güllekübeln zu übergießen, Kritik (= Worte!) zu Gewalt zu erklären, alles Unangenehme zu blocken, systematisch kritische Accounts zu melden etc., für hochgradig besorgniserregend halte. Dasselbe gilt natürlich genauso für diejenigen, die jeden Linken sofort als Zecke oder Kommunisten bezeichnen und nur noch in ihren rechten Blasen verkehren.
Wir müssen uns nicht alle mögen. Aber wir müssen einsehen, dass wir unsere gegenseitige Kritik benötigen, um nicht völlig zu verblöden. Und völlige Verblödung ist das, was wir aufgrund der immer leichter werdenden und forcierten Blasenbildung überall beobachten.